Rede Carlotta Seidel , Schiessplatz Hebertshausen 4 Mai 2024
"Von Schüler:innen bekomme ich manchmal die Frage, wie Menschen anderen Menschen so etwas antun können. Wie Menschen so unmenschlich sein können."
Seit September mache ich ein Freiwilliges Soziales Jahr im Max-Mannheimer- Studienzentrum in Dachau. Als ich angefangen habe, dort zu arbeiten, ist mir klar geworden, wie wenig ich eigentlich über den Nationalsozialismus in der Schule gelernt habe. Es gibt viele Themen, die gar nicht angesprochen wurden. Zum Beispiel, dass sowjetische Kriegsgefangene in verschiedene Konzentrationslager gebracht wurden, um dort direkt ermordet zu werden. Dass diese Menschen in den Konzentrationslagern nie registriert wurden. Dass bis heute nur wenige Namen bekannt sind.
Dieser Ort hier war für mich von Beginn an ein Ort der Widersprüche. Als ich Ende September das erste Mal hier war, hat die Sonne geschienen, es war warm und ich war ganz allein. Es hätte fast schön sein können. Gleichzeitig konnte ich nicht vergessen, an was für einem Ort ich war. Auf dem Gelände eines ehemaligen SS-Schießplatzes. An einem Ort, an dem über 4000 sowjetische Kriegsgefangene ermordet wurden.
“Mahnmal für die Opfer" (2014)
Über 4000 sowjetische Kriegsgefangene. Es ist leicht, diese Zahl zu nennen und zu übersehen, was sie eigentlich bedeutet. Mehr als 4000 Menschen mit mehr als 4000 unterschiedlichen Geschichten. So viele dieser Geschichten sind für immer verloren. Und so stehen wir hier und können fast nur an diese Zahl erinnern. Denn wenige Namen sind bekannt. Und doch ist jeder Name ein Gewinn. Jeder Name lässt die 4000 ein wenig greifbarer erscheinen.

Es ist grauenvoll, was an diesem und an so vielen anderen Orten geschehen ist. Ich frage mich manchmal, wie ich solch ein Grauen an Schülergruppen vermitteln soll. Ein Grauen, das ich selbst nicht begreifen kann. Trotzdem zeige ich Gruppen oft diesen Gedenkort. Es ist ein weiterer Aspekt der Verbrechen der Nationalsozialisten und ich finde es wichtig, den Schüler:innen das Ausmaß dieser Verbrechen klarzumachen. Es gab nicht einen Ort, an dem Verbrechen verübt worden sind, sondern tausende. Und es gab so viele unterschiedliche Menschen, die verfolgt wurden, aus unterschiedlichen Gründen. Das Bewusstsein über die verschiedenen Opfergruppen ist ein weiterer Aspekt, warum es mir so wichtig ist, mit Gruppen diesen Gedenkort anzusehen. Es ein Ort, der an die Ermordung sowjetischer Kriegsgefangene erinnert. Etwas, was vermutlich den meisten Menschen nicht als Erstes in den Kopf kommt, wenn sie an die Nationalsozialisten denken.
Von Schüler:innen bekomme ich manchmal die Frage, wie Menschen anderen Menschen so etwas antun können. Wie Menschen so unmenschlich sein können. Auf diese Frage habe ich keine Antwort. Es ist schwer, sich vorzustellen, dass Menschen zu solchen Taten fähig sind. Dass auch damals ein Mensch so viele andere Menschen ermorden konnte. Dass es ein ganzes System dahinter gab, ein System, das dieses Morden nicht nur möglich gemacht, sondern auch bestärkt hat.
Doch genau das darf nicht vergessen werden. Es darf nicht vergessen werden, dass Menschen zu solch grauenvollen Taten fähig sind. Es darf nicht vergessen werden, wozu Faschismus führen kann. Wozu Krieg führen kann. Wozu Hass und Ausgrenzung führen können.
Wenn ich an die Zukunft denke, bekomme ich Angst. Ich denke an all die Kriege, die es weltweit seit Jahren gibt. Ich denke auch an den europaweiten Rechtsruck der letzten Jahre. Ich denke an all den Hass auf andere Menschen, der einem immer wieder begegnet. Hass, der durch die sozialen Medien noch verstärkt wird.
Immer wieder wird gesagt: Wir müssen aus der Geschichte lernen. Aber ich frage mich manchmal, ob der Mensch wirklich lernen kann. Wann lernen wir, dass Hass und Gewalt niemanden weiterbringen?
Dass im Krieg alle Menschen leiden? Dass man in dem Moment, in dem man Menschen in Gruppen einteilt, nicht weit davon entfernt ist zu vergessen, dass wir alle Menschen sind?
Wir alle sind Menschen. Menschen, die viel mehr Gemeinsamkeiten haben als Unterschiede. Wir alle sollten uns auf diese Gemeinsamkeiten fokussieren. Damit kein Mensch mehr sagen kann, er sei mehr wert als ein anderer.
Carlotta Seidel

